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Lenau (Nikolaus Edler Niembsch von Strehlenau)
Der offene Schrank
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Mein liebes Mütterlein war verreist, |
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Und kehrte nicht heim, und lag in der Grube; |
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Da war ich allein und recht verwaist, |
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Und traurig trat ich in ihre Stube. |
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5 |
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Ihr Schrank stand offen, ich fand ihn noch heut, |
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Wie sie abreisend ihn eilig gelassen, |
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Wie Alles man durcheinander streut, |
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Wenn vor der Thür die Pferde schon passen. |
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Ein aufgeschlagnes Gebetbuch lag |
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Bei mancher Rechnung, von ihr geschrieben; |
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Von ihrem Frühstück am Scheidetag |
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War noch ein Stücklein Kuchen geblieben. |
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Ich las das aufgeschlagne Gebet, |
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Es war: wie eine Mutter um Segen |
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Für ihre Kinder zum Himmel fleht; |
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Mir pochte das Herz in bangen Schlägen. |
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Ich las ihre Schrift, und ich verbiß |
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Nicht länger meine gerechten Schmerzen, |
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Ich las die Zahlen, und ich zerriß |
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Die Freudenrechnung in meinem Herzen. |
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Zusammen sucht' ich in den Speiserest, |
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Das kleinste Krümlein, den letzten Splitter, |
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Und hätt' es mir auch den Hals gepreßt, |
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Ich aß vom Kuchen und weinte bitter. |