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Gottfried Keller
An einer Kindesleiche
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Er hat geweht, der Wind, den niemand sieht |
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Und niemand hört; er hat den Baum geschwungen, |
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Deß Wurzelwerk die Erde überzieht, |
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In dessen Krone ich dies Lied gesungen. |
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Das jüngste Blatt, das gestern dran geblüht, |
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Hat über Nacht sich leise losgerungen |
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Und fiel; und niemand gab wohl weiter acht |
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Als ich, der da zunächst dabei gewacht. |
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So bist erlöscht du, lieblich junges Licht, |
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Das mir erquickend in das Herz gezündet? |
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Noch sprach drei Worte deine Zunge nicht, |
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Doch hat dein Lallen mir so viel verkündet! |
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Das Sehnen, das die feinsten Bande flicht, |
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Es hat mich innig auch mit dir verbündet. |
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Ja, vor viel Großem unter dieser Sonnen |
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Hab ich dich, Kleiner, wert und lieb gewonnen! |
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Ob ich gen Himmel sah ins blaue Meer, |
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Ob in dein Aug, es war das gleiche Schauen: |
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Es leuchtete aus diesen Sternen her |
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Ursprünglich reines Licht von schönern Auen. |
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Wie oft senkt ich den Blick, von Mühsal schwer, |
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Erfrischend tief in dies verklärte Blauen! |
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Wie war das Lachen deines Munds so fein! |
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Wie heimlich unsre Freundschaft , still und rein! |
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Nie hab an deine Zukunft ich gedacht, |
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Die Gegenwart war ja so schön und heiter! |
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Du hast wie eine Blume mir gelacht |
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Und an die Sommerfrucht dacht ich nicht weiter; |
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Ob einst vielleicht ein Held in dir erwacht, |
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Wie hoch du steigest auf der großen Leiter: |
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Du lieblich Kind warst in dir selbst vollkommen – |
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Was sollte dir und mir die Sorge frommen? |
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Zu der du wiederkehrst, grüß mir die Quelle, |
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Des Lebens Born, doch besser: grüß das Meer, |
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Das eine Meer des Lebens, dessen Welle |
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Hoch flutet um die dunkle Klippe her, |
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Darauf er sitzt, der traurige Geselle, |
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Der Tod – verlassen, einsam, tränenschwer, |
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Wenn ihm die frohen Seelen, kaum gefangen, |
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Mit lautem Jubel wieder auf die See gegangen! |